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WM 2022

Diese Weltmeisterschaft war endlich eine, die den Namen verdiente. Denn sie war tatsächlich da, die gesamte Welt, spielte mit und stand im Mittelpunkt. Nicht nur die üblich verdächtigen Europäer, Argentinier und Brasilianer. Nein, Marokko erreichte das Halbfinale!

In Deutschland halten sich bekanntlich fünf Orte für den geographischen Mittelpunkt des Landes. Der des Fussball hat sich durch dieses Turnier eindeutig nach Süden verschoben. Und das nicht nur durch stetige Erweiterung des Teilnehmerfeldes. Oder das Abschmelzen der Polkappen.

Gastgeber war diesmal die traditionelle Fussball – Nation Katar. Nicht wenige, die dabei an eine Atemwegserkrankung ihrer Großeltern gedacht hatten – jetzt wissen sie es besser. Denn das Emirat ist endgültig auf der Sport – Weltkarte aufgetaucht. Genau wie der Oman und die VAR. Und gemeint ist damit nicht der Videoschiedsrichter. Der befindet sich nach wie vor in einem Keller n Köln. 

Aber: Erst Handball, dann Judo, dann Fußball, jetzt auch noch Wintersport: Der Golf macht mobil. Ich freue mich schon auf eine dortige Blitzschach – WM. Die bei 50 Grad Außentemperatur ihrem Namen alle Ehre machen könnte. 

Es gehört zu den Schönheiten der Weltgeschichte, dass wir wohlstandsverwahrlosten Mitteleuropäer jetzt ohnmächtig dabei zusehen müssen, wie uns genau jene Länder unseren geliebten Volkssport wegkaufen, die wir jahrzehntelange mit unserem Hunger nach Öl selber gemästet haben. Während wir jetzt noch hektisch unsere Verbrennermotoren wahlweise zu manipulieren oder umzurüsten versuchen, stellen sie dort ihrerseits übrigens schon längst auf Wasserstoff um. Aber wenn sie das geschafft haben, schlagen wir zurück – denn bei uns regnet es schlicht mehr! Und dann holen wir uns auch den Sport wieder – dann wird es heißen: Football´s coming home!

Aber auch ohne unser Spritgeld war es eine WM der Südhalbkugel – der Korken war aus der Flasche, als Argentinien das erste Mal spielte. So viele Fans, so eine Ausgelassenheit: Man konnte sich nur mitfreuen. 

Also, wenn man es konnte. Aber diese Emotion ist uns Deutschen nicht in die Wiege gelegt. Und in diesem Falle erst recht nicht. Mussten wir doch wenige Wochen vor dem Turnier entsetzt feststellen, dass Katar in keiner Weise unseren Ansprüchen genügt. Dort wird Hammel gegessen. Und die Sonne scheint ganz schlimm viel. Frauen haben nichts zu melden. Gastarbeiter werden ausgenutzt. Es gibt dort sogar Leute, die haben was gegen Homosexualität!

Das alles hat die hiesige Öffentlichkeit kurz vor Turnierbeginn erschrocken festgestellt und dann eine Art Boykott beschlossen. Der Verfasser dieser Zeilen war vermutlich der einzige Deutsche, der alle Spiele gesehen hat. Gefühlt hat er sich wie ein DDR-Bürger, der heimlich ZDF guckt. Deshalb tat er das natürlich nur hinter herunter gelassenen Rollläden und erzählt hat er es auch niemandem. Um nicht selber auch einem Boykott anheimzufallen. In seiner geliebten freundlichen Nachbarschaft wäre es nicht gut angekommen, wenn plötzlich Aktivisten die Zufahrten blockiert hätten. Überhaupt gelten in diesem sehr beschaulichen Teil seiner Stadt Menschenansammlungen mit mehr als drei Personen schon als Ruhestörung. Also andererseits eine ideale Umgebung, um unentdeckt Hanf anzubauen – oder Fußball-WM zu schauen.

Public Viewing gab es ja aus politischen Gründen sowieso nirgendwo. Kein Wirt hat die WM in seiner Kneipe übertragen: Eine moralische Vorentscheidung. Und den Konflikt, diese revidieren zu müssen, weil die eigene Elf sich für das Halbfinale qualifiziert und dort beispielsweise auf Brasilien trifft…. den hat uns die Mannschaft erfreulicherweise erspart. Sie hat vielmehr ihrerseits die Konsequenzen aus dem heimischen Desinteresse und der politischen Empörung gezogen und ist auf schnellstem Wege ausgeschieden. Auch das eine Vorentscheidung. Vermutlich Höflichkeit.

Tja, die Mannschaft. Hat sich eben schon im Vorhinein lauthals über den moralischen Konflikt beschwert und diesen unfassbaren Druck, der sie dazu zwänge, gegen ihren Willen dieses Turnier spielen zu müssen. Sie müssten nun alles ausbaden, dabei wären ihnen die Hände gebunden. Gespielt haben sie dann aber, als hätte man ihnen die Füße verknotet.

Aber dann wollten die Spieler – zusammen mit dem DFB und anderen Verbänden – wenigstens ein Zeichen setzen durch eine eigene Kapitänsbinde. Pro Homophilie, Trans und LGBTQ und so. Aber: Der Regenbogen galt als zu provokant, man fürchtete Unruhen am Golf, dort gibt es ja keine Luftfeuchtigkei. Ergo wählte man ein Gummiband, das wahrscheinlich derselbe Typ entworfen hat, der 2006 auch das Maskottchen Goleo konzipierte. Irgendwas in Pastell, mit Wellen irgendwie, passt schon.

Beantragt bei der FIFA hatte man diese Kapitänsbinde allerdings nicht, man wollte die korrupten Funktionäre aus der Schweiz damit vielmehr überraschen. Die waren allerdings ihrerseits teilweise schon nach Katar umgezogen, um sich der Justiz des sogenannten heimischen „Freistaats“ zu entziehen. Unvorhersehbares mögen die FIFAkker nämlich gar nicht.

Und so, surprise, surprise: Die Überraschung gelang nicht dem DFB, sondern der FIFA. Sobald sie davon erfuhr, wurde die sogenannte „One – Love – Binde“ nämlich untersagt. Ohne, dass man Konsequenzen überhaupt konkret benennen musste, zogen die vorlauten Verbände ihre unfassbar revolutionär –  emanzipatorisch – liberale Idee in Windeseile wieder zurück. Oder behaupteten, sie hätten sie nie gehabt. Harry Kane als erster betroffener Kapitän (der englischen Nationalmannschaft) betrat den Rasen mit der üblichen Binde und schaute genauso missmutig wie immer. Und schweigend. Manuel Neuer dagegen äusserte sein Sorge, er würde tatsächlich vom Platz gestellt, wenn er mit der Pastellschleife aufliefe. Zudem würde er inhaftiert und ins lokale Gastarbeitersystem integriert (und auch nur dort). Um als Greenkeeper zu arbeiten oder dem Reinigungsteam des Sultans zur Hand zu gehen, weil er doch immer so prima „den Kasten sauber hält“. Und das wäre ihm denn doch zu weit gegangen.

Gefallen lassen wollten sich die deutschen Spieler diese Bevormundung aber nicht. Sie hatten sich von der „One – Love – Aktion“ sehr viel versprochen und offenbar gehofft, mit einer solchen Initiative am wasserlosen persischen Golf eine Coming – Out – Welle zu starten. Und nun: Pustekuchen. 

So posierten die Akteure beim Mannschaftsfoto vor dem ersten Spiel wie die elf Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Ach nein, nur: Nichts sagen. Maulkorb. Uiuiui. Sie hielten sich den Mund zu – als müssten sie gähnen. Oder als wollten sie zum Ausdruck bringen, dass ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt sei. Sie sahen aus wie Dieter Nuhr. Stinkreich, aber massiv gekränkt. Irgendwie total beleidigt.

Andere vor dem Turnier noch solidarische Verbände waren dagegen totenstill. Kein Mucks. Keine großen Gesten. Das einheimische Publikum, dass die Deutschen seinerseits so intensiv wie selten zuvor beobachten konnte, musste diese Geste der deutschen Elf daher als Kritik an den Zuständen in ihrem eigenen Land betrachten und war beleidigt ob solcher Unhöflichkeit dem Gastgeber gegenüber. Zu Differenzierung („Aber gemeint war doch nur die FIFA!“) war man dort nicht imstande. Insofern waren dann die meisten Teilnehmer sogar regelrecht erleichtert, als die teutonischen Stinkstiefel endlich das Land verlassen hatten. Die Zuschauer machten erstmals die Welle. Am Flughafen. Als der Lufthansa – Weltmeisterflieger abhob. Die Spieler waren das ja schon.

Sportlich wäre man natürlich imstande gewesen, eine vergleichsweise leichte Vorrundengruppe zu überstehen, man ergab sich vielmehr aus den genannten geopolitischen Gründen den Fußball – Großmächten Japan und Costa-Rica. Die Spanier dagegen liess man vom Haken, obwohl man gegen sie tatsächlich eine ordentliche Leistung gebracht hatte und durchaus hätte gewinnen können.

Zuhause wurde die Leistung der Mannschaft aufgrund des Boykotts allerdings quasi gar nicht wahrgenommen. Andererseits war ja beides nur so halbgar, und die Verweigerungshaltung der Bevölkerung genauso konsequent wie die deutsche Abwehr – insofern sprach sich das Ausscheiden denn doch irgendwann herum. Schlechte Nachrichten liebt man hierzulande.

So nutzten insbesondere die Rechtspopulisten natürlich sofort diese Gelegenheit, die angebliche Politisierung des Sports zu beklagen. Und die sportliche Niederlage aufgrund der Diskussionen und die One-Love-Binde gezielt gegen LGBTQ einzusetzen. „Ausgeschieden sind wir doch nur wegen der Lesben!“.

Andere überschütteten die Nationalmannschaft mit der üblichen deutschen Mischung aus Missgunst und Häme. Es gehört ja zu unseren Prinzipien, dem Sieger nicht zu gratulieren und unsere eigene Niederlage nicht einzugestehen. Und vor allem nicht die Überlegenheit des Gegners – oder unsere eigene Schwäche. Wenn uns überhaupt jemand schlägt, kann es ja nur an unserer eigenen Dummheit gelegen haben. Wobei, nicht unserer, sorry, der des Schiedsrichters oder des Mittelfeldspielers mit dem Migrationshintergrund oder so. Der war dann meistens an allem schuld.

Der Trainer konnte allerdings interessanterweise jedenfalls nichts dazu. Der tat vielmehr so, als sei nichts passiert. Bzw. als wisse er nicht, worum es geht. Bzw. als wäre er gar nicht dabei gewesen. Flick scholzte gewissermassen. Und ist deshalb wahrscheinlich auch noch im Amt.

Der Rest war teutonische Hybris. (siehe den gleichnamigen Text)

Das war es. Marokko kam bis ins Halbfinale. Getragen von der Leidenschaft von tausenden von Fans. Nicht nur dies ein Sieg der Unschuld. Das ganze Turnier war es. Nach Jahren der Diskussionen über die Kommerzialisierung des Fußballs, nach Enthüllungen über Korruption in den Verbänden, nach Eulenspiegeleien und allerhand Tell – Theater waren es die Fans, die das Turnier genossen haben. Einfach so. Als wollten sie sagen: Lasst die da oben doch machen. Wir lieben einfach nur diesen Sport. Und: Recht haben sie.

Unser Verband hat nichts unternommen, als wir die Vergabe an Katar noch hätten verhindern können. Unsere Mannschaft hat trotz allem teilgenommen. Und wir Fans sollten das dann ausbaden. Und haben es getan. War schön, oder? (Achtung: Ironie!).

Nicht mit mir. Ich habe das Turnier genossen. Ja, das ganze. Und habe es gefeiert. Ich war mal Franzose und mal Argentinier. Und meistens Marokkaner. Gewonnen habe ich nicht. Aber ich habe auch einfach nur diesen Sport geliebt. Und wünsche mir, das wir das auch alle bald wieder können.